Süddeutsche Zeitung
Der Kampf ums Leben
«Versteckspiel mit dem Tod» von Michail Wolochow in Paris
Im Centre dramatique national der Pariser. Vorstadt Gennevilliers hat Bernard Sobel «Cache-Cache avec la Mort» von Michail Wolochow in szeniert. Wir entdecken mit einiger Verspätung ein neuartiges Stück von explosiver Kraft, das der 1955 in Kasachstan geborene Dramatiker 1987, kurz nach seiner Übersiedlung nach Paris,- geschrieben hat.
Eine französische Version
Für die Übersetzer bot der in «Mat», dem monomanisch obszönen Slang der russischen Unterwelt, verfasste Text enorme Schwierigkeiten, Die antisemitischen Verwünschungen, von denen der Text strout, lassen sich zwar ins Französische übertragen, aber jedes Volk hat seine speziellen Flüche und fixen Ideen. Wichtig ist zu wissen, dass «Mat» auch als Waffe gegen den Kommunismus eingesetzt wurde und dass diese Sprache (die ursprünglich der Beschwörung der bösen Waldgeister gegolten haben soll) heute nicht nur im Gefängmsrnilieu, sondern auch von jungen Leuten gebraucht wird.
Schauplatz des ZweipersoncnstÜcks ist ein Krankenhaus für hochgestellte Apparatschiks des KGB, wo Arkadi, ein ukrainischer
Proletarier, und Felix, ein jüdischer Intellektueller und heruntergekommener Dichter, als Wächter und Feuerwehrmann angestellt sind. Zeit der Hand lung ist die Mitte der achtziger Jahre. Durch eine, Fülle von
Geschichten über sexuelle Brutalitäten und Mordtaten zeigt der. Dialog zwischen beiden Männern die Situation einer kranken Ge sellschaft, in der alle Formen
menschlicher Beziehungen verzerrt sind und das
Rechtsempfinden völlig verdreht ist, in der sich der Kampf ums Leben auf ein «Versteckspicl mit dem Tod» reduziert.
Der Bühnenbildner Nicky Rieti hat einen makabren Raum eingerichtet: eine Art von riesi gem Heizungskeller mit grauen Rohren, wo links ein Haufen schmutziger und ziemlich unbrauch bar wirkender Feuerlöscher liegt. Rechts stehen zwei verschlissene Klubsessel, ein Fernsehgerät, auf dem ein stummes Nachrichtenprogramm ab läuft, und ein alter Eisschrank. Der Saal bleibt zu erst hell erleuchtet, so dass der Zuschauer sich im gleichen Raum eingeschlossen fühlt wie Arkadi und Felix, die von einem Raubzug in die Kran-kenhauskücfae zurückkehren. Dann wird die Be leuchtung zunehmend schwächer und das Spiel undurchsichtiger. Vergebens versuchen wir aus den immer aggressiver werdenden Worten des je weils im bellen Lichtkegel Erscheinenden Klar heit über die Vorgänge zu gewinnen, welche die immer auswegloser erscheinende gegenwärtige Situation erklären können. Der Regisseur Bemard Sobel legt den Akzent auf die psychologische.
Durchdringung der Charaktere und fand mit Hugues Quester (Felix) und Denis Lavant (Arkadi) zwei sensible Darsteller. Sobel ist heute der letzte französische Intendant, der sich zur Kommunistischen Partei bekennt. Seine text-getreue Inszenierung zeigt Selbstironic und lässt nihilistische Hoffnungslosigkeit, aber auch schwärmerische Begeisterung für eine verlorene Utopie spüren.
Ein russisches Gastspiel
Wolochow, der Autor des Stücks, hat von innen Einblick in die Nomenklatura und die dunklen Geschäfte der Mafia gewonnen. Seine Forscher-karriere scheiterte am Antisemitismus. In den achtziger Jahren wurde er in der Moskauer Undergroundszene als Schriftsteller ein Begriff aber erst 1992 wurde zum erstenmal eines seiner Stucke in einer russischen Zeitschrift veröffent licht. Amateure spielten bereits 1990 «Versteck-spiel mit dem Tod». Aber die erste professionelle Aufluhrung dieses Stücks fand erst 1993 im Mossoviet-Theater in Moskau statt in der Be arbeitung und Inszenierung von Andrei Gitinkin mit zwei renommierten Schauspielern aus dem Lenkom-Theater Sergei Tschonischvili (Felix) und Andrei Sokolow (Arkadi), der aus Filmen, darunter «Die kleine Vera», bekannt ist.
Ein kurzes Gastspiel dieser Produktion in Paris wurde organisiert, und man hatte Gelegenheit, in Gennevilliers auf der gleichen Bühne auch die russische Inszenierung zu sehen. Schauplatz ist hier eine Leichenhalle, in der Mitte der Bühne stehen eine Bahre, einige Stühle mit Kunststoff-hüllcn und ein Telefon. Trotz der noch morbide ren Atmosphäre als in der französischen Inszenie rung ist die Aufführung der Russen, die das Ganze als tragische Farce auffassen, humorvoller. Sie ist aber auch wesentlich gewalttätiger.
Die Roheit wird ebenso konkret dargestellt wie die unermüdliche Sorge um Essen und Trinken, Arkadi und Felix sind einander ständig körperlich nahe und hängen zuweilen mittels irgendeines Gegenstandes wie Kettensklaven aneinander. Am Schluss bringt sich Felix mit dem Rasiermesser um. So ist ihm der Ausweg verwehrt, auf den Wolochow in seinem Stück verweist. Felix kann sich nicht durch das blosse «Ausdenken von Mor den» am Leben halten in einer totalitären Gesell schaft, in der als Tat nur das Töten bleibt. Die Russen zeigen hier, wie ihr Regisseur vor der Pariser Vorstellung sagte, «die verlorene Genera tion unserer Tage». Durch die szenische Darstel lung versuchen sie, das Ausmass der Deformation zu verstehen, die das Bewusstsein der Gesell schaft in der ehemaligen Sowjetunion erlitten hat. Die Reaktion des Publikums in Moskau war, wie Gitinkin berichtete, ein «totaler Schock».
Dagmar Sinz
EUROPA
Pariser Eintdeckungen
…Zweite Entdeckung: Michael Wolochows nächtliches ..Versteckspiel mit dem Tod». Bernard Sobel brachte es in seinem Theater in Gennevilliers heraus. Es stammt aus dem Jahr 1990, drei Jahre, nachdem sein Au tor m Frankreich die Niederlassung bekommen hatte. Das Stück berich tet von Zuständen aus Gorbatschows Regierungszeit. Im Keller eines KGB-Krankenhauses haben die Feuerwehrleute Arkadi, der kopflose Aufbrauser, genannt der Ukrainer, und Felix, genannt der Jude. Nacht dienst. Was ihr unflätiger Rotwelschdialog offenlegt, ist die schranken lose Verbiegbarkeit des Menschen. Felix, zynischer Lageberechner hat Arkadi zu einem Mord angestiftet. Die unsichtbare Leiche liegt, bildlich gesprochen, wie eine Keule in Felix Hand: Arkadi gewärtigt, daß er sie ihm jeden Moment überzieht. Underdogs sind beide, nur versteht Felix, sich eine vorteilhafte Identität auf den Hut zu stecken: Er ist beschimp fungswürdiger Jude und spielt sich zugleich als KGB-Mitglied auf. Als solchen himmelt ihn Arkadi an: auch er möchte KGB-Mann werden, und damit teilhaftig dessen, was der Kommunismus laut Felix verleiht: „Seelenfrieden». Anpassungsrituale laufen nun ab: wir wohnen der frei willigen Umwandlung eines Mannes in einen Fußabstreifer bei. Bis Felix mit einem Satz seine angebliche Identität zeitgcrccht verändert: zur CIA gibt er vor zu gehören. Arkadi schnappt auch nach diesem Lockvogel. Seine totale Selbslpreisgnbe besteht am Schluß in der Einrei bung unter die Schwulen. Die beiden ziehen sich Strumpfhosen als neue Haut über. Aber dabei kommt die ausweglose Schamlosigkeit der Rede des ersten Teils ins Lahmen. Niedertracht. Vcrderbtheit und Korruptheit sollen gewissermaßen totalisiert werden. Da wäre weniger mehr gewe sen. Sobel zieht aber vom ersten Augenblick an die Zügel straff. Die Obszönitäten geben sich in seiner Inszenierung als Stilelemcnt zu erken nen. Sie bezeugen die Ohnmacht der Redenden inmitten von Nicky Rie ds mannshohen gekrümmten Heizungsrohren in dem schwarzen Keller-ceschoß, dem sie nicht entweichen werden. Randvoll von Frust gestiku lieren sie unentwegt in dieser Einspcrnmg. Die Schauspieler, die diese ausweglose Manie wiederzugeben haben, machen daraus keinen Augen blick einen Tick. Nie schinden sie Eindruck. Sie sind verbissen bei der Sache: Empfindung haben sie langst hinter sich gelassen. Verstauchung des Menschseins füllt die ganze Bühne aus.
G. Schlocer
Süddeutsche Zeitung
Wo’s’nicht biegt, da bricht’s
Spielzeiteröffnung in Bochum mit Ibsen und Volochow
Deutsche Erstaufführung
Michail Volochov
BLINDEKUH
…Der intellektuelle schwule jüdische Feuerwehrmann Felix und der etwas grobschlächtige und schwarzmarkterfahrene ukrainischel Pförtner Arkadi, beide kurz vorm Untergang der Sowjetmacht auf gemeinsamen Posten im Wachraum des Moskauer KGB-Kranken-hauses, vertreiben.sich die Zeit mit einem undurchsichtigen, bruta len Spiel: Rückgratfahndung, Persönlichkeitsaustreibung. Was we gen dem bewußt überstrapazierten Kloakejargon, die „Krankenhauswächter» Armin Rohde und Michael Weber anstimmen, zunächst als aufdringliches Milieustück zu beginnen scheint, entpuppt sich als atemberaubende Vorführung und Bloßstellung einer kompromißlosen Anpassung an das jeweils machthabende System. Eine Rundumbiegung: Unterwerfung funktioniert längst ohne „Brechen». BLINDEKUH ist eine Endeckung. Ein wilder Schrei: gegen die Seelenbiegung.
Was wegen dem bewußt überstrapa zierten Kloakejargon, den die „Kranken-hauswächter Armin Rode und Michael Veber anstimmen — zunächst als aufdringliches Miliestuck zu beginnen scheint, tntpuppt sich mit der Zeit als atemberaubende Vorführung und Bloßstellung einer kompromißloser. Anpassung an das jeweils machthacende System. Eine rundumbiegung: Unterwerfung funktioniert längst ohne «Brehen». Felix, der «Biindekuh» nicht nur mit Arkadi, sondern vor allem auch mit dem Publikum spielt, nimmt eine Maske nach der anderen abdoch welches Gesicht sein wahres ist, bleibt ungewiß.
Regisseur ßernard Sobel inszenierte «Blindekuh» von einem halben Jahr bereits in Paris fur das Bochumer Schau spielhaus hat Dramaturg Dieter Welke das überraschend weltgültige Stück des hierzulande bisiang unbekannten sowjetischen Gegenwartsautoren eigens ins Deutsche übersetzt. Eine Entdeckung: Ein wilder Schrei: gegen die Seelenbie gung.
Mathias Pees
THEATER HEUTE
Saisonstart Bochum
Premiere von Volochovs «Blindekuh»
Wüster Kampf um Moral und Anstand
Moskau, im schäbigen Wach raum eines Krankenhauses des KGB —eine Tristesse, die gut in das Kellergewölbe des Theater Unten pabt. Michail Volochovs „Blindekuh» hatte am Samstag Premiere. „Hart» sollte es werden, hatte Dra maturg Dieter Welke versprochen, und et hielt Wort. Über zwei Stunden verfolgten die Zuschauer einen Selbst-zerfleischungsprozeß zweier Menschen, der sich in un-barmherzigen Beschimpfün-gen, zarten Annäherungen und wilden Geschichten zwischen Wahrheit und Fiktion ergoß. Deftig war ihr Voka bular, doch das schien ange messen. Kaum vorstellbar, daß sich diese Menschen anders als in brutalem Jargon miteinander unterhalten sollten.
Michael Weber und Armin Rohde, die den langen Text Innerhalb weniger Wochen paukten, lieferten sich einen überzeugenden Nervenkrieg, in dem es zwischen den knall harten Worten um Moral, Kunst und Liebe ging. Vordergründig läßt sich Ar kadi, ein kleiner Dieb, antisemitisch, skrupellos und unheilbar opportunistisch, fortwährend von Felix (Armin Rohde) verfuhren. Für Kohle tut Arkadi alles, „du fragst doch nicht oben bei Deinem Hirn» muß er sich sagen lassen. Am Ende ist er sogar bereit, ein richtiger Jude zu werden, der Gipfel seiner Wendehalsigkeit Das Verwirr’spiel, in das ihn der gebildete Felix hineinzieht, ist für ihn, den Intellektuellen, ein Beispiel seiner Kunst. Am Ende «fordert er Arkadi, den ukrainischen Arschkriecher auf, ihn, der noch einen Rest an «Selbstachtung besitzt, umzubrihgen..»Man darf sich nicht verfrühstücken lassen», das Felix Devise.
Die eigentliche Geschichte der beiden Russen, die im zerberstenden : Kommunismus Ende der 80er nach festem Boden suchen, ist nicht so wichtig. Ihr Kampf um Moral rund Menschlichkeit geht weit über Moskaus Grenzen hinaus.
Ruhrnachrichten
Westdeutsche Zeitung
Was der Jude ist
Bochum – Volochows «Blindekuh»
Von unserer Mitarbeiterin Eva Pfister
Bochum. La der Zeit der Perestroijka, im Jahr 1990, spielte das Improvisationstheater in Moskau das Stück „Blinde kuh». Sein Autor, Michail Volochov, lebte seit 1987 in Paris. Er verkündete in „Blindekuh» eine klare Botschaft: Die Men schen in der Sowjetuünion kann man nicht umgestalten.
Oder doch: Man kann sie sogar sehr leicht umbauen. Für ein paar Rubel kann man aus ihnen alles machen: Mörder oder Agenten. Schwule oder Juden. Regisseur Bernard Sobel hat, Blindekuh im Februar in Pa ris aufgeführt und jetzt in Bo chum auf deutsch inszeniert. Wir befinden uns auf Nachtwa che im Keller eines KGB-Kran-kenhauses: Der einfältige ukrai nische Afghanistan-Veteran Ar-kadi ist für die Pfone zuständig, der verkrachte jüdische Schrift steller Felix für die Feuerlö scher. Der Umgangston ist rüde, der Streit alltäglich. Doch bald wird klar, daß Felix mit dem Genossen spielt, wobei er sich versteckt hält, während Arkadi in alle Fallen tappt. Er bringt für 500 Rubel jemanden um, er läßt sich in treuem Glau ben vom KGB anheuern, gräbt dafür sogar seine kommunisti sche Gesinnung wieder aus, wechselt bruchlos zum GIA und stülpt sich dann sogar die Iden tität seiner größten Feindbilder über: Er läßt sich zum Juden und zum Schwulen machen. Felix hingegen ist vielleicht gar kein Jude, er enthüllt immer neue Identitäten wie eine russi sche Steckpuppe. Jedenfalls ist er als Intellektueller mit dem Fluch der Hellsichtigkeit ge schlagen, ein Zyniker, der an seinen Einsichten verzweifelt. Armin Rohde spielt diesen Felix sehr überzeugend mit einem nachlässigen Gestus, während Michael Weber seinen Arkadi beinahe clownesk aufdreht. Bernard Sobel sieht in diesem Perestroijka-Stück wohl eine Studie über Antisemitismus, der ja in der zerfallenden Sowjet union aufblühte. Ausstatter Nicky Rieti kleidete Felix in ei nen schwarzen Mantel mit Samtkragen, den Genossen in eine Soldatenuniform. Aber die Pelzmützen der beiden entpuppen sich bei genauerem Hinse hen eher als Rabbinermützen denn als Capkas. Wer hier Jude; ist, weiß man am Ende nicht mehr, wohl aber, was „der Jude» ist und wofür er steht. Ein spannender Abend ist in Bochum zu besichtigen.
Im Schattenreich des KGB
Bochum: Michail Volochovs «Blindekuh» erstaufgeführt
Zwei Männer Im unwirtlichen Wachraum eines russischen KGB-Krankenhauses zur Zelt der Perestralka. Der eine Malocher-Typ, der andere versucht sich als Dichter. Sie schieben Nacht schicht, und unbttndiger HaB des einen gegen den anderen wütet offenbar In Ihnen. Sie be schimpfen sich in einer katastrophalen Trümmersprache auf Immer ekligere Welse: antlseml-tisch und Inhuman. Zwei „Underdogs» In einer Übergangsgesellschaft, die zwischen dem gepre digten Hell des Kommunismus und den Verheißungen des Kapitalismus schwankt.
Autor Michail Volochov, dessen Zweipersonenstück „Blindekuh» im Bochumer „Theater unten» als deutsche Erstaufführung Premiere hat te, überdreht die monströse Beleidigungsmaschine Jedoch derart, daß die Unflätigkeitenteilweise nur noch lustig und nicht mehr beängstigend den zerstörten Charakter der beiden Anti-Helden beschreiben. Doch das wäre der geringste Einwand.
Als Psycho-Studie zweier in eine Wendezeit Versprengter, weckt das Sprach-Duell zu Anfang Neugierde. Aber dem Autor liegt letztlich nicht an den. Porträts von sozialem Strandgut oder den Auswir kungen von großer Politik auf kleine Leute.
Das zunächst aufmerksamkritisch zwischen Bukowski und Bild-Zeitung angesiedelte Panorama verengt sich im Verlauf der Inszenierung zu einem ziemlich müden Agen-tenplot Über KGB- und CIA-Organisation»- und Verhal tensmuster, versetzt mit ver querem, wohl kabarettistisch gemeintem Unterton, Das kommt in der Regie von Hernard Sobel recht bemüht daher und läßt den Zuschauer bei aller Drastik weitgehend unbeteiligt.
Die beiden, hervorragenden Darsteller Michael Weber als wankelwütiger Arkadi, und Armin Rohde als abgewichstvulgarer Rollenspieler Felix
versuchen mit bemerkens werter Intensität, der Mixtur aus Funktionärsgeschnatter und Schimpfkanonade anrüh rendes Leben einzuhauchen. Vergeblich. Zu, sehen, sind nur Abziehbilder aus einem naiv versimpelten Schattenreich der Geheimdienste.
Werner Streletz
Recklinghauser Zeitung
Eine verkomene Gesellschaft
Deutsche Erstaufführung von Volochovs Stück «Blindekuh» in Bochum
Die Sowjetunion am Ausgang der 80er Jahre. Endzeit eines Impe riums. Die Macht zerfallt. Noch ist unklar, wem sie künftig gehören wird. Nur eines ist sicher: Das Volk, jahrzehntelang im Umgang mit den alten Eliten geübt, muß sich neu orientieren. In dieser. Zeit des Umbruchs spielt Michail Volochovs 2-Personen-Stück „Blindekuh». Arkadi (Michael Weber) und Felix (Armin Rohde) arbeiten nachts als Wach männer in einem Krankenhaus des KGB, das so etwas wie die letzte Heimat ist für abgehalfterte Geheim-diensthelden, um die sich keiner mehr kümmert. Die von Nicki Rieti eingerichtete. Bühne zeigt den Aufenthaltsraum der Wachleute, einen herunterge kommenen Lagerraum. Den.Fußboden bedecken Wasserlachen, im Hintergrund stehen Feuerlöscher, am Bühnenrand zwei zerschlissene Sessel vor einem Fernseher. Hier fechten sie brutale Wortattacken aus, in der obszönen Sprache der Unter schicht. Volochovs Stück zeichnet das Bild einer verkommenen Gesellschaft, die vom Kampf ums Überleben mo- rausch aufgezehrt ist. Nichts ist selbstverständlich: Um Alltägliches, wie Wohnung öder Essen, muß stän dig-neu gerungen werden. Das hat Spuren hinterlassen. Arkadi, der ein fache Schlosser, ist nur noch die Hülle eines Menschen. Er ist bereit, jede beliebige Identität anzuneh men,.die den Herrschenden — jedenfalls denen, die er für die Herrschen den hält» gefällt: Kommunist, Kapitalist, KGB-Agent, CIA-Agent, Jude, Schwuler — egal. Wenn es sein muß, alle zusammen. Dieses Mal will, er auf jeden Fall auf der richtigen Seite.stehen. Nur, wer sagt ihm, wo sie sich befindet? Felix, der Intellektu eile, der eigentlich Schriftsteller werden wolite, spielt mit seinem unbedarften Partner ein grausames Spiel, das selbst vor. Mord nichtrz schreckt.
„Blindekuh» ist ein reines Dialog-Drama — in einem Akt und nahezu ohne äußere Handlung. Das ist si- eher nicht leicht in Szene zu setzen Mancher Regieeinfall verdeutlicht dann auch eher diese Schwierigkeit, als daß er etwas über den Charakter der Rollen verriete oder den Fort — gang des Stücks förderte. Zudem stört ein wenig die Diskrepanz zwisehen dem klaren norddeutschen, leicht humoristisch wirkenden Ak zent Michael Webers und der unge wöhnlich vulgären Sprache seiner Rolle. Das intensive Spiel Armin Rohdes vermag das nicht ganz wett zumachen.
Die Premiere, im Bochumer „Thea ter unten» war zugleich die deutsche Erstaufführung des Stücks. Sein hierzulande unbekannter. Autor stammt aus Kasachstan und lebt heute in Paris. Der Dramaturg Dieter Welke entdeckte dort nicht nur das Stück für das Bochumer Schauspielhaus, sondern auch den Regisseur Bernard Sobel der „Blindekuh», Frankreichi herausgebracht Jhatte. Da Sobel sein Teater nicht Verlassenn konnte, fanden die Proben einfach in Paris statt. Zur Premiere war er aber doch erschienen und nahm den lang anhaltenden Applaus des Publikums entgegen.
Holger Everz
SONNTAGSNACHRICHTEN
„Blindekuh» in Bochum: Tödliches Spiel
Der Titel suggeriert ein uns aus Kindertagen wohlbekanntes Spiel:. jemand wird, mit verbundenen Aueen, von den Mitspielern immer wieder in die falsche Richtung geschickt. In Michail Volochovs „Blindekuh», von Bernard Sobel in Deutscher Erstaufführung insze niert , läßt sich einer sehenden Auge immer wieder auf die falsche Fahne locken zwischen KGB und CIA. Und mit ihm das Publikum. Was wie eine Agentenstory aus der Perestroika-Zeit der ausgehen den SOer Jahre daherkommt, ent puppt sich innerhalb zweier span nender Stunden als ein kunstvolles Verwirrspie! zwischen Realität und Fiktion. Im Wachraum eines Moskauer Krankenhauses für privile gierte KGB-Patienten entspannt sich ein grotesk-zynischer Zwei-kainpf zwischen dem als Feuer wehrmann jobbenden schwulen jüdischen Schriftsteller Felix (Ar min Rohde häufig mit Gerd Vos-Attirüde) und dem Pförtner Arkadi (Michael Weber ein Naiver mit großen, ungläubigen Kinderaugen), eigentlich einem kleinen Schieber, der, um seine Familie darchzubrin-gen, das Bewußtsein dialektisch einsetzt und auch vor einem bestell ten Mord nicht zurückschreckt.
Wie ein Planet «die Sonne umkreist der devote Speichellecker den Dichter, der sich in der neuen Freiheit nach dem Zusammen brach des totalitären Regimes nicht zurechtfindet und Selbstniordpiäne schmiedet. Volochov zeichnet das Porträt gestrandeter Existenzen, die noch ganz der Epoche des real exilierenden Sozialismus verhaftet sind. Bernard Sobe! verschärft das Tempo, setzt auf Humor statt auf krude Obszönität und bringt die textlastige Zimmenchiacht auf den Punkt.
Pitt Hernnann
Bospecl
Blindekuh
Wer «Blindekuh» spielt, bekommt die Augen verbunden, tappt relativ orientierungslos durch die Gegend, und sucht ie-manden zu lassen zu kriegen, der dann selbst die blinde Kuh spielen darf. «Blin dekuh», das Zweipersonenstück von Mich ail Volochov, das jetzt im Theater Unten seine deutscne. Erstaufführung erleben durfte, spielt im Dunkel des Wachraums ei nes russischen KGB-Krankenhauses zur Zeit der Perestroika. Arkadi und Felix, der Pförtner und ein Feuerwehrmann auf Nachtschicht, bereichem sich am Volksei gentum, schlagen die Zeit tot mit gegensei tigen Haßtiraden, suchen jeder den anderen in die Enge zu treiben und können doch nicht voneinander lassen: menschliche Trümmer einer zerfallenden Gesellschaft, die orientierungslos zwischen nicht-mehr-Kommunismus und noch-nicht-JCapitalismus umhergeistern.
Autor Volochov scheint auch sonst dem wahren Realismus des zerfallenden Sowjet staats auf der Spur zu sein, sprachliche Ver wüstung und brutaler Umgangston prägen das Bild. Proletarier Arkcdi kontert die ver meintlich intellektuelle Überheblichkeit des Freizeitdichters Felix mit einer geballten Ladung Antisemitismus, der antwortet mit Net tigkeit ähnlicher Art. Statt Kommunikation verbaler Schlagabtausch auf Niedrigstiveau. Ein russisches Doku-Drama ? Der Schein trügt «Blindekuh» will offensichtlich mehr als nur ein Psychogromm zweier ge scheiterter Existenzen im Schemen der Perestroika entwerfen — «Blindekuh» will ein unterhaltsames Stück sein, mit grotesken Un tertönen und einem überraschenden Plot… Und so verstrickt Felix Arkadi in sine dubio se Erzählung, in der er als angeblicher Agent des JCG3 Arkadi für den russischen Geheimdienst engagiert, als angeblicher Doppelagent des KGB und CIA ihm eine Stellung beim amerikanischen Secret Servi ce anbietet und den armen Arkadi, der oh nehin nicht gerade der Keüste ist, in ziemliche Verwirrung stürzt. Und letzlich läuft alles darauf hinaus, daß Arkadi Felixx endlich umbringen soll, denn der Sinnlocsigkeit des eigenen Lebens eine Ende bereiten, das kann Felix nicht.
Und so löst sich, was als monstrose Beleidigungs attacke dem Zuschauer noch halb wegs nahe ging, in wohlgefälliger Heiterheit auf. Russische Dichter hatten ja schon im mer ein Faible für Selbstmord… Michael We ber als Arkadi und Armin Rohde als Felix geben zwar ihr Bestes, der Abzocker-Menta-lität dieser russischen Underdogs authenti sches Flair zu verleihen, gegen die verquaste Dramaturgie von «Blindekuh» heben sie aber kaum eine Chance. Was ais Studie menschlichen und moralischen Zerfalls noch ganz nett beginnt, endet so leider nur als mäßig unterhaltsames Spielchen um KGB und CIA: gut gespielt und trotzdem schlecht.
VM